Der etwas andere Krimi:
WARNKES TOMATENFLECK
von Axel Zierer

Warnke saß mutterseelenallein im Restaurant, das in seiner schmucklos-modernen Ausstattung eher den Charme einer Bahnhofshalle verbreitete. Der Kellner in seiner perfekt sitzenden Servicejacke verzog keine Miene, als er jede Menge Besteck und eine kunstvoll gefaltete Serviette an seinem Platz drapierte. Ein tiefer Seufzer entfuhr Warnke. In Heinzens Pommesbude "Guten Appetit" wäre es wenigstens ungezwungen zugegangen und er in angenehmer Gesellschaft anderer Bestecklegastheniker gewesen. "Lass das Getue," mahnte er genervt den Serviermeister an, "ich lege auf sowas keinen Wert." Der ließ sich jedoch nicht beirren und servierte formvollendet die bestellte Tomatensuppe. "Wünsche guten Appetit, der Herr!", fügte er höflich hinzu und zog sich zurück. Warnke berührte den Tellerrand und verbrannte sich beinahe die Finger. "Verdammt heiß, die Brühe“, maulte Warnke lauthals. Schon stand der Kellner wieder neben ihm, mit einer Rolle Toilettenpapier auf einem Silbertablett. "Was soll das denn?", fragte Warnke verblüfft. Dies sei die längste Serviette, die er aufzutreiben imstande gewesen sei, gab der Serviermeister ungerührt zu Protokoll und legte die Rolle neben seinen Teller. In zwei Meter Abstand baute er sich gegenüber Warnkes Tisch auf – eine einzige Provokation! Warnke stand der Schweiß auf der Stirn. Man führt den Löffel zum Mund, nicht umgekehrt!, schoss ihm der mütterliche Rüffel durch den Kopf. Jetzt bloß nicht ... logisch! Der Tomatenfleck wirkte auf der blütenweißen Tischdecke wie ein hässlicher roter Pickel auf glatter Stirn. Ein feiner Mann werde ich wohl nie, räsonierte er in finaler Resignation und schob verstohlen den Teller über den Fleck. Der Kellner räusperte sich vernehmlich und räumte mit verächtlich-spöttischer Miene den Teller ab. Warnke konnte seine Gedanken regelrecht lesen: Ein tattriger Kriminalbeamter, der nicht mal sudelfrei seine Suppe löffeln kann, wie soll ein solcher Suddelkopp überhaupt Verbrechen aufklären?

Durchdringendes Sirenengeheul brachte plötzlich Leben in die beklemmende Stille und lenkte Warnke von weiteren Selbstbezichtigungen ab. Mit hochrotem Kopf stürzte der Koch aus der Küche. „Feueralarm! Ich muss sofort los. Ich bin Brandmeister bei der Freiwilligen Feuerwehr!!“ Er riss sich Schürze und Mütze vom Leib. „Ja, und mein Steak?“ jammerte Warnke vorwurfsvoll. „Ich habe Menü bestellt!“ - „Später! Sie sollten lieber mitkommen, Herr Kommissar, vielleicht werden Sie gebraucht!“ – „Wie, mitkommen? Soll ich über die Schläuche wachen?“ Warnke bleckte die Zähne über seinen scherzhaften Einschub.

Der Brandort befand sich gleich um die Ecke in der Bahnhofstrasse, in einem leerstehenden Gebäude, einer ehemaligen Bäckerei. Aus dem Obergeschoß drang heftiger Qualm, ein Fenster stand sperrangelweit offen. Die Feuerwehrleute rollten die ersten Wasserschläuche aus. Was sollte er hier? Es brennt ja nicht mal richtig. Zudem knurrte Warnkes Magen vernehmlich, er nahm die rüde Unterbrechung des dreiteiligen Mittagsmahls offensichtlich übel. Wie aufs Stichwort erschien der Koch. Warnke hätte ihn in seiner Feuerwehrkluft beinahe nicht erkannt. „Was sagen Sie dazu, Herr Kommissar?“ Er hielt ihm ein Paar alte Schuhe unter die Nase. „Das Haus steht schon seit Jahren leer. Trotzdem standen diese Latschen vorm Seiteneingang! Wenn das kein Indiz ist!“

Indiz wofür? Warnke konnte mit der Entdeckung nichts anfangen. „Die Treter müssten dringend besohlt werden, mehr kann ich nicht erkennen.“ Der Koch ließ nicht locker. „Und wenn jemand ins Haus gegangen ist und vorher die Schuhe ausgezogen hat?" Tsss! Wer latscht denn ohne Schlappen durch diese mehlige Bude? Warnke wandte sich kopfschüttelnd ab. Plötzlich stürzte aus der offenstehenden Eingangstür ein junger Mann heraus und drängte sich an ihm vorbei. Blitzschnell packte Warnke zu und nahm ihn in den Schwitzkasten. „Was hast du in dem Gebäude zu suchen?“ Der Junge wehrte sich heftig, trat um sich und schrie. „Loslassen!! Lassen Sie mich sofort los!!“ Warnke rief zwei weitere Blauröcke heran, die in einiger Entfernung rauchend vor der ehemaligen Spukbonn-Kneipe standen. „Festhalten, den Knaben!“ Er herrschte den Jungen an: „Ich mache jetzt einen Kontrollgang durchs Haus! Und du überlegst dir inzwischen, was du hier drin zu suchen hattest.“

„Ich begleite Sie! Bin schließlich Brandmeister.“ Der Koch stellte die verdächtigen Schuhe auf der Treppe ab und tippte auf Warnkes Oberhemd: „Sie haben da einen Blutfleck, Herr Kommissar!“ Warnke war sofort klar: dieser Fleck konnte nur von der Tomatensuppe stammen. „Geb’ ich nachher in die kriminaltechnische Untersuchung", nuschelte er unwirsch. Die Suppenbefleckung vor dem kochenden Brandmeister zuzugeben wäre ihm peinlich gewesen. „So, und jetzt verschaffe ich mir erstmal einen Überblick und schau’ mich im Haus um.“

Wenig später standen die Beiden zusammen in einem verqualmten Raum mit Matratzen und Kisten, wo vermutlich das Feuer ausgebrochen war. "Hier stinkt es nach Rauch," stellte er kritisch fest, "gehen wir in den Nebenraum." Dort standen zusammengeschoben ein paar alte Möbel in einer Ecke, eine nackte Glühbirne baumelte von der Decke und an einer Wand hing ein Meisterbrief in einem Bilderrahmen, dessen Glas mit Graffiti besprüht war. "Krieg’ hier so eine unselige Ahnung ...", murmelte Warnke mehr zu sich.

Na bitte! Sein Verdacht hatte sich bestätigt! Im hintersten Winkel, vor einem zerfransten Sofa, lag ganz offenbar eine nackte weibliche Person. Soviel er im schummrigen Licht und in respektvollem Abstand erkennen konnte, steckte in ihr kein Leben mehr - dafür zwischen ihren blutverschmierten Brüsten ein überlanges Brotmesser. „Grausig!!“ Der Koch schaute Warnke über die Schulter. „Ist sie tot?“ – „Vermutlich! - „Befürchten Sie, sich Ihre Privatklamotten einzusauen?“ fragte er spöttisch den verharrenden Warnke und wollte sich an ihm vorbei zur mutmaßlichen Leiche drängeln. Doch Warnke hielt ihn zurück. „Stopp! Dies ist ein Tatort! Da heißt es, keine Spuren zu verwischen! Ruf lieber einen Arzt!“

„Wozu noch einen Arzt?“ Der örtliche Bestatter tauchte hinter Warnke auf und warf einen kurzen Blick auf die Leiche. „Die Kleine ist mausetot, mit ein bisschen Feingefühl sieht man das sofort! Und überhaupt: Welcher Weißkittel hätte denn Dienst?“ - Typische Kleinstadtprobleme, die Notdienstzentrale war vierzig Kilometer entfernt. „Hübschen Blutfleck hast du da auf der Brust, Commissario! Der Leiche ein bisschen zu nah gekommen?“Warnke quittierte die saloppe Feststellung mit einem vernichtenden Blick. Wer ihn überhaupt gerufen habe, wollte er vom Bestatter wissen. „Was weiß ich? Meine Frau war am Telefon.“ Warnke hakte nach, ob sie denn den Namen des Anrufers notiert habe. Die Fragerei ging dem Bestatter sichtbar auf den Senkel: „Hör mal, Commissario, unser Job setzt Pietät voraus. Wir veranstalten bei einem Notruf kein Quiz, sondern ich fahr los! Im Übrigen leck mich quer!“ Ehe Warnke etwas Passendes erwidern konnte, war der Bestatter wieder verschwunden. Dafür war jetzt der Koch ganz aus dem Häuschen: „Die Schuhe! Die Leiche trägt keine Schuhe! So weit ich aus der Entfernung erkennen kann!“

Vor Aufregung über seine Entdeckung war sein Kopf wieder knallrot angelaufen und erinnerte Warnke unangenehm an seine Tomatensuppe. „Ob ihr die alten Schlappen auf der Treppe gehören?“ Warnke reagierte genervt über die Einmischung in seine polizeilichen Ermittlungen. „Das untersuche ich alles, wenn der Arzt hier war. Haben Sie den schon angerufen?“ Unterdessen schleifte der Bestatter einen Sarg heran und schnüffelte. „Sagt mal ... irgendwie riecht’s hier seltsam. Nach – äh Ketchup. Sag mal, Brandmeister, die falsche Flasche geschüttelt? Hast wohl totes Fleisch gesehen...“ Er brüllte vor Freude über seinen schrägen Einfall. Das empörte Gesicht des Kochs feuerte den Bestatter weiter an. „Komm, Küchenbulle, hilf mir mal. Allein krieg ich die Kiste nicht auf... Vermutlich liegt ihr Zuhälter drin.“ Erneut schallte sein wieherndes Lachen durch das dämmrige Gebäude. Warnke reagierte gereizt auf den derben Humor. „Hier wird noch gar nichts eingemottet. Erst schaut sich der Arzt die Leiche an. Ohne Totenschein läuft hier nix.“ Der Bestatter blieb entspannt. „Alles gut. Ich habe noch jede Menge zu tun!“ Im Vorbeigehen hieb er dem Koch kräftig auf die Schulter: „Ey Kumpel! Vergiss nicht gerecht zu teilen - und reservier mir was von der prächtigen Brust. Mit Ketchup!“ Mit dröhnendem Gelächter verabschiedete er sich. „Ja, in meinem Beruf darf der Spaß nicht zu kurz kommen. Sonst drehste irgendwann durch."

Auf der Treppe stieß er beinahe mit den beiden Blauröcken zusammen, die mit dem Jungen im Polizeigriff erschienen. Mit bedeutsamer Miene hielt der Eine etwas hoch. „Schauen Sie mal, Herr Kommissar, habe ich bei dem Kerl gefunden. Ich bin sicher, dass er damit das Feuer gelegt hat. Die gaschromatographische Untersuchung zur Identifizierung des Stoffgemisches steht zwar noch aus, aber...“ Warnke winkte verächtlich ab. „Das ist ein Grillanzünder, sowas benutze ich selbst auch. Beweist gar nichts.“ Neugierig schaute er auf den Brandmeister, der keuchend die Treppen hoch sprintete. Mit hochrotem Schädel und nach Luft japsend vermeldete er, dass das Feuer gelöscht worden sei. Eigentlich habe es gar nicht richtig gebrannt, nur gequalmt. Egal, nun würde er die Uniform wechseln und wieder zum Herd eilen. Warnke könne also in Kürze das Essen fortsetzen... Dem war jedoch noch nicht nach blutigem Steak. „Wo bleibt denn bloß der Arzt“, schrie er ungehalten. Das schien wie ein Stichwort auf den Jungen zu wirken. Blitzartig befreite er sich aus der Umklammerung der beiden Blauröcke und warf sich laut jammernd auf die Tote. „Heidi! Heidi!“ Seine überraschende Aktion löste großes Erstaunen aus.

„Ach! Du kennst die Verblichene?“, folgerte Warnke messerscharf. – „Heidi ist tot, mein Gott, sie ist tot!!“ Er hatte die Tote an seine Brust gezogen. „Und?? Warst du das? Hast du sie getötet?“, bohrte Warnke nach. Der Junge sah kurz zu ihm hoch und schluchzte verzweifelt: „Neiiiin! Sie ist ... sie war ... meine Freundin!!“ Aha! Warnke sah jetzt die Zeit zur Attacke gekommen. „Sie wollte wohl nicht so, wie du wolltest?“ Der Junge reagierte entsetzt. „Wie kommen Sie denn darauf?“ – „Ganz einfach. Ich denke, sie ließ dich nicht ran, es kam zum Streit, und zack, hast du sie abgestochen wie ein Spanferkel vorm Schlachtefest.“ Verängstigt schüttelte der Junge den Kopf, während Warnke seine Schlagzahl erhöhte. „Die Indizien sind eindeutig. Du hast sie mit dem Messer getötet und wolltest dann mit dem Feuer die Spuren beseitigen.“ Der Junge zitterte vor Empörung. „Nein, so war’s nicht“, protestierte er. „Ich geb’ ja zu, ich war hier. Aber sie war schon leblos, als ich sie fand. Sie müssen mir glauben!“ Er ließ von der Toten ab und warf sich Warnke vor die Füße. „Bitte“, schrie er händeringend, „bitte! Glauben Sie mir, ich habe niemanden erstochen.“ Warnke blieb unerbittlich. „Du hättest zum Theater gehen sollen. Aber mir spielst du hier nichts vor! Ich hab dich durchschaut. Die kriminaltechnischen Untersuchungen an den Tatgegenständen werden deine Schuld beweisen!“ Siegessicher blickte Warnke die beiden Blauröcke an, während diese ungerührt sich gegenseitig die nächste Lulle anzündeten. Der Junge rappelte sich hoch. Tränen flossen über seine Wangen: „Sie haben Recht, Herr Oberkommissar! Ich gebe zu ...“ -- Warnke frohlockte. Na also! Der Koch rang sich ein anerkennendes Murmeln ab. Warnke wandte sich an die Blauröcke. „Wenn ihr aufgeraucht habt, bringt ihn zur Wache in die Herzog-Johann-Albrecht-Straße! Das Protokoll erstelle ich später.“

Ein breites Grinsen stand plötzlich im Gesicht des Jungen: „Warten Sie! Ich gebe zu: Sie hatten Recht, Herr Kommissar, als Sie sagten, ich solle zum Theater...“ Warnke schaute etwas verwirrt zum Koch: „Eher wohl ein Fall für die Klapsmühle!“ Der Junge lachte. „Nein, nein, eher reif fürs Stadttheater! Meine Freunde meinten zwar, meine Idee sei total bescheuert, darauf fiele heutzutage kein Schwein mehr herein... aber wie man sieht...“

Er nahm kurz Anlauf und trat mit aller Kraft gegen den Kopf der Toten. Der gewaltige Kick trennte den Schädel vom Rumpf und schleuderte ihn krachend gegen die Wand. Von dort trudelte er vor Warnkes Füße. Der Junge griente, hob den Kopf auf und hielt ihn Warnke hin: „Bitte sehr, Herr Kommissar, für Ihre kriminaltechnische Untersuchung. Vorsicht, sauen Sie sich bloß nicht ein! Kein Blut, nur ganz normaler Ketchup. Schade um die schöne Schaufensterpuppe ... jetzt so ohne Kopf!"

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