Kurzgeschichte von Axel Zierer - c/2011

TOMATENFLECK UND LEICHNAM

Warncke führte seinen Kopf zum Löffel. Verdammt heiß, die Brühe. Bloß nicht zittern. Vergebens! Der Tomatenfleck machte sich auf der blütenweißen Tischdecke wie ein hässlicher roter Pickel auf glatter Stirn. Und der Kellner stand in Sichtweite. Sein spöttischer Blick ließ Warncke erahnen, dass ihm die Sauerei auf der Tischdecke nicht entgangen war. Vielleicht machten die Kellner untereinander schon Späße über ihn, den Kleckerweltmeister. Ein Polizeibeamter, der nicht mal sudelfrei eine Tomatensuppe löffeln konnte - wie wollte ein solcher Suppenkasper wichtige Fälle lösen? Ich werde wohl nie ein feiner Mann, resümierte er in finaler Resignation. Durchdringendes Sirenengeheul brachte plötzlich Leben in die fast menschenleere Gaststube. Erregt stürzte der Kellner auf ihn zu, noch rechtzeitig brachte der Polizeimeister seine Serviette über den roten Fleck. Was gibt’s? Warncke blickte unschuldig. Es brennt, ich muss leider los. Freiwillige Feuerwehr! Zugführer! Sie verstehen? Der Kellner glühte vor Aufregung. Wie eine überreife Tomate, dachte Warncke, oder wie der Fleck hier. Und mein Steak?  - Später! Sie kommen am besten mit, Herr Oberrat, vielleicht wird ein Polizist am Brandort gebraucht! - Wie mitkommen? Soll ich über die Schläuche wachen? Warncke bleckte die Zähne.

Wenig später stand er vor der leerstehenden Bäckerei in der Bahnhofstrasse. Aus dem Obergeschoß drang heftiger Qualm, ein Fenster stand sperrangelweit offen, ansonsten war nicht viel zu sehen. Warncke knurrte der Magen. Wie aufs Stichwort erschien der Kellner und hielt ihm ein paar alte Schuhe unter die Nase: Wie erklären Sie sich das, Herr Wachtmeister? Das Haus steht seit Jahren leer. Trotzdem standen die Latschen vorm Seiteneingang! Wenn das kein Indiz ist.

Indiz wofür? Warncke konnte mit der Entdeckung nichts anfangen. Die Treter müssten dringend besohlt werden, mehr kann ich nicht erkennen. Vielleicht hat sie jemand fälschlich abgestellt - in Unkenntnis von den Aufgaben eines Bäckers! Der Kellner reagierte enttäuscht. Na ja, ich dachte ja bloß. Plötzlich zeigte er sich wieder elektrisiert. Und wenn jemand im Haus ist und die Schlappen ausgezogen hat? Wie zur Bestätigung seiner Vermutung stürzte im selben Moment ein junger Mann aus der Eingangstür. Instinktiv stellte sich Warncke dem Burschen in den Weg. Warum so eilig? Er hielt den Jungen fest im Schwitzkasten. Was hast du in dem Gebäude zu suchen? Der Junge trommelte verzweifelt gegen Warnckes Brust. Loslassen!! Der Polizist winkte zwei weitere Blauröcke heran, die in einiger Entfernung rauchend vor der ehemaligen Spukbonn-Kneipe standen. Festhalten, den Knaben! Der Kellner zeigte besorgt auf Warnckes Hemd: Ist das ein Blutfleck, Herr Wachtmeister? Oder ein Tomatenfleck? - Wie das? Meine Suppe steht bei dir auf dem Tisch. Warncke lenkte ab. Das Blut kann nur von den Händen des Jungen stammen! Komm, wir schauen uns mal im Haus um. Irgend ein Gefühl sagt mir, dass wir vor einer unliebsamen Entdeckung stehen!

Na bitte! Warncke war stolz auf seine Spürnase. Im hintersten Winkel der unmöblierten Kammer, gleich neben dem Raum, in dem das Feuer ausgebrochen war, hatte er die Tote entdeckt. Soviel man im schummrigen Licht der Flurbeleuchtung erkennen konnte, steckte in ihrer Brust ein überlanges Brotmesser. - Ist sie tot? Der Kellner blieb respektvoll an der Tür stehen. Auch Warncke traute sich nur auf Sichtweite ran, angeblich aus Sorge vor weiteren Blutspritzern. Wieso kommt mir jetzt mein Steak in den Sinn, fragte er sich. Englisch gebraten mit Ketchup! Warncke blickte zum Kellner. Endgültig kann's nur ein Arzt klären! - Wozu noch ein Arzt? Der Bestatter betrat den Raum und warf einen kurzen Blick auf die Leiche. Die Kleine ist mausetot, mit ein bisschen Feingefühl sieht man das sofort! Und überhaupt. Welcher Weißkittel hat denn Dienst? -- Typische Kleinstadtprobleme, die Notdienstzentrale war vierzig Kilometer entfernt. Jetzt war Warncke an der Reihe, einen drauf zu setzen: Bis die hier eintreffen, habe ich den Fall geklärt. Dazu benötige ich lediglich eine Blutanalyse. Er schaute an sich herab... von meinem Hemd! -- Eine weitere Feststellung war fällig. Die Schuhe! Sie trägt keine Schuhe, rief der Kellner aufgeregt. Er hielt die Schlappen in die Höhe. Wieso läuft ein Mensch in dieser vermehlten Bruchbude ohne Latschen rum? -- Inzwischen hatte der Bestatter einen Sarg angeschleppt. Vielleicht konnte sie fliegen. Du verstehst: Triumph des Geistes! Er lachte lauthals los. Übrigens, Hasenfuß, hilf mir mal, den Sargdeckel aufzustellen. Allein krieg ich ihn nicht auf. Wahrscheinlich kommt er vom Puff nebenan und es liegt ein Zuhälter drinne. Sein bebendes Lachen erschütterte den Raum. Der Kellner wandte sich angewidert ab, während Warncke nachhakte. Kann es sein, dass du den miesen Witz im Fernsehen aufgeschnappt hast? Na klar, prustete der Totengräber, gesten Abend. In dieser Sendung über Braunlager Walpurgistradition. Die sah ich auch, ging Warncke in die Offensive. Leider kamen nicht Hexen und Teufel zur Wort, sondern nur drittklassige Comedians wie du einer bist, Freundchen! -- Der noch eben von Lachkrämpfen geschüttelte Totengräber bückte sich nach einem Baseballschläger, der neben dem Leichnam lag. Drohend kreiste das Schlaggerät über seinem massigen Quadratschädel. Warncke reagierte gallig. Falls du noch mehr Fingerabdrücke hinterlassen willst: Wie wär's mit dem Brotmesser in der Toten! - Spaßbremse! Wichtigtuer! Der Baseballschläger verfehlte nur knapp Warnckes Kopf. Wutschnaubend stürmte der Bestatter von dannen.

Die beiden Blauröcke erschienen auf der Bildfläche, den Jungen noch immer im beidseitigen Armgriff. Triumphierend hielt der eine einen Brandbeschleuniger in die Höhe. Schauen Sie mal, Herr Kommisar, habe ich ihm abgenommen. Ich bin sicher, mit einem solchem hat er das Feuer gelegt. Die Gaschromatograph-Untersuchung zur Identifizierung des Stoffgemisches steht zwar noch aus, aber... Warncke winkte unwisch ab. Das ist ein Grillanzünder, den benutze ich auch. Beweist gar nichts. Vielleicht wollten er und die Tote grillen, mischte sich der Kellner ein - und schnüffelte. Hier riecht's nach Ketchup! Warncke höhnte. Und weil das Fleisch fehlte, hat er sie kurz geschlachtet!? -- Er wandte sich dem Jungen zu. Stimmt das? Hast du hier gekokelt? Er erhielt keine Antwort. Stattdessen riss sich der Junge plötzlich los und warf sich schluchzend vor die Tote. Heidi! Heidi! Er schien total verzweifelt. -- Du kennst sie also? -- Heidi ist tot, mein Gott, sie ist tot!! --- Hast du sie getötet? -- Der Junge warf sich auf die Tote, so als ob er sie glatt bügeln wollte. Sie ist...sie ist meine Freundin!!

Aha! Warncke sah die Zeit zur Attacke gekommen. Sie wollte wohl nicht so, wie du wolltest? - Der Junge reagierte entsetzt. Wie kommen Sie denn darauf? - Ganz einfach. Ich denke, sie ließ dich nicht ran, es kam zum Streit, und zack, hast du sie abgestochen wie ein Spanferkel vorm Schlachtefest. Warncke hielt ihm den Baseballschläger unter die Nase. Ist das hier deine Keule? Der Junge nickte verängstigt. Warncke erhöhte die Schlagzahl. Die Indizien sind eindeutig. Erst hast du ihr mit dem Baseballschläger eine vor die Rübe gegeben, der Kopf ist ein einziger Blutpfropf, und danach hast du mit dem Messer den Rest erledigt. Der Junge zitterte vor Empörung. Nein, so war’s nicht, rief er protestierend. Ich geb ja zu, ich war hier. Aber sie war schon tot, als ich sie fand. Sie müssen mir glauben! Er ließ vom Leichnam ab und warf sich Warncke vor die Füße. Bitte, schrie er händeringend, bitte! Glauben Sie mir, ich habe keinen Mord begangen. --- Du hättest zum Theater gehen sollen. Aber mir spielst du hier nichts vor! Ich hab dich durchschaut. Die kriminaltechnischen Untersuchungen an den Tatgegenständen werden deine Schuld beweisen! Siegessicher blickte Warncke die beiden Blauröcke an, die ungerührt eine Lulle nach der anderen qualmten. Der Junge rappelte sich hoch. Tränen flossen über seine Wangen: Sie haben Recht, Herr Oberkommissar! Ich gebe es zu!! -- Warncke jubilierte. Na also! Er wandte sich an die Blauröcke. Bringt ihn zur Wache in die Herzog-Johann-Albrecht-Strasse! Das Protokoll erstelle ich später.

Ein breites Grinsen stand plötzlich im Gesicht des Jungen: Ich gebe zu. Sie hatten Recht, Herr Kommissar! Ich meine, als Sie sagten, ich hätte zum Theater ... Der Kellner schaute verwirrt zu Warncke: Reif für die Klapsmühle? Der Junge lachte. Nein, nein, reif fürs Staatstheater! Meine Freunde meinten zwar, meine Idee sei total bescheuert, darauf fiele heutzutage doch niemand mehr herein... Er nahm kurz Anlauf und trat mit aller Kraft gegen den Kopf der Toten. Der gewaltige Kick trennte augenblicklich den Schädel vom Rumpf und schleuderte ihn krachend gegen die Wand. Von dort trudelte er vor Warnckes Füße. Der Junge nahm den Kopf in die Hand und hielt ihn Warncke vors Gesicht: Riechen Sie mal, Herr Wachtmeister!-- Warncke griff sich geschockt ans eingesaute Hemd. Tomatenketchup! Kein Blut! Der Junge griente und zuckte bedauernd die Schulter. Nur schade um die schöne Schaufensterpuppe!

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