Die Meerschweinchenausstellung
Endlich war die Familie in eine neue Wohnung gezogen. Sie lag in der Wurmbergstrasse und war um ein paar Quadratmeter geräumiger als unsere vorherige Behausung. Schnell stand für mich fest, dass damit ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung gehen konnte: die Anschaffung eines Haustiers! Am liebsten wäre mir eine Katze gewesen. Doch meine Mutter wehrte sich vehement und erfolgreich gegen diesen Plan. Das komme überhaupt nicht infrage, lehnte sie ein derartiges Ansinnen kategorisch ab. Wir müssten die Wohnung schon mit einer weiteren Mieterin teilen (seinerzeit nicht unüblich), das reiche.
Also keine Katze. Alternativen wie Sittiche oder Kanarienvögel schieden aus, da ich von deren Existenz zu dem Zeitpunkt nichts wusste. Mein Bruder und ich stellten neue Überlegungen an. Zu unserer Wohnung gehörte ein Holzschuppen, wo das Feuerholz gelagert wurde. Neben den gestapelten Holzscheiten waren unsere Fahrräder untergebracht. Ein kleiner Käfig könnte noch reinpassen, so unsere Erwägung, doch selbst ein Karnickel würde wohl bald unter Platzangst leiden. Ein Modetrend kam uns schließlich zur Hilfe. Meerschweinchen standen hoch im Kurs. Die possierlichen Nager passten zum kleinen Geldbeutel, waren relativ pflegeleicht und besaßen eine kindgerechte Lebenserwartung. Ganz wichtig, denn die Vorlieben eines Kindes ändern sich, was weniger seine Schuld ist als die seiner Hormone.
So kaufte ich einem Schulkameraden für 50 Pfennige ein Meerschweinchen ab. Es sah recht putzig aus, folglich nannte ich es Putzi. Dass sie ein Weibchen war, stellte sich erst später heraus. Mein Bruder bestand natürlich auf sein eigenes Schwein. Wir spielten stundenlang mit den possierlichen Tierchen, versuchten ihnen Kunststücke beizubringen oder trugen sie auf dem Arm spazieren. Die Nacht verbrachten sie im eigens gefertigten Kleinkäfig mit Drahttüren neben dem Fahrrad unseres Vaters. Trotz der räumlichen Eingeschränktheit gediehen unsere Nager prächtig, besonders Putzi wurde eine richtig hübsche Sau.
Wochen später eine große Ferkelei im Stall: Nachwuchs! Neben der Stammmannschaft wuselten sage und schreibe sechs Winzlinge, halbnackt und blind. Sie kuschelten sich an meine Putzi - ganz offensichtlich die Bache. Mein Bruder und ich folgerten daraus, dass sein Meerschweinchen ein Männchen sein musste - ein Meereber sozusagen. Wir starrten fasziniert in den Käfig und waren begeistert über den Zuwachs. Im Gegensatz zu unserer Mutter, die uns Schusseligkeit unterstellte. Keine Ahnung, wie sie das meinte.
Wie ein Lauffeuer sprach sich der große Wurf meiner Putzi herum. Denn nach Aussagen von Experten, alle in meinem Alter selbstverständlich, waren bei Meerschweinchen ansonsten zwei bis vier Junge die Regel. Schlagartig, sozusagen über Nacht war ich berühmt geworden. Meine Putzi – ich gebärdete mich wie ein stolzer Viehzüchter. Da kam selbst mein Schulfreund Albert nicht mit, wo doch sonst bei ihm alles eine Nummer größer war. Seine vielen Meerschweinchen lebten auf dem Dachboden des väterlichen Pferdestalls in einem riesigen Geläuf. Eine schöne und bunte Anhäufung, aber darunter keine Supersau mit sechsfachen Nachwuchs wie eben meine Putzi. Dank ihr hatte ich Albert endlich einmal überflügeln können.
Zeigefreudig, wie es so meine Art ist, sollte die Welt an meiner Freude teilhaben. Naheliegend, dass ich auch mit Freund Albert darüber sprach, in welcher Form dies passieren könnte. Am Ende des Tages kamen wir auf die Idee einer Freiluftausstellung. So zogen wir eines Nachmittags mit unseren Meerschweinchen zur Verlobungswiese. Zwischen dem oberen Weg und dem unteren Weg, die beide direkt an der (heutigen) Talstation der Wurmbergseilbahn vorbeiführen, gibt es einen Verbindungssteig. Eigentlich ein Trampelpfad, vielleicht zwanzig Meter lang. Am kleinen Steilhang zwischen den Wegen hatten sich terrassenförmige Plateaus ausgebildet. Dazu hatte das Wurzelwerk einiger Fichten für kleine Ausbuchtungen gesorgt, die aussahen wie Nester. Ein idealer Platz für unsere Meerschweinchenausstellung, fanden wir, und setzten unsere Schutzbefohlenen samt Nachwuchs in die verschiedenen Areale.
Wir hatten den Ort gut gewählt, denn Spaziergänger und Kurgäste auf beiden Wegen passierten zwangsläufig unseren Steig mit der Ausstellung. Albert und ich sprachen die Vorbeiflanierenden mit jugendlicher Begeisterung an, ob sie Interesse an unserer Meerschweinchenausstellung hätten. Kostenlos natürlich. Der Andrang war überwältigend. So sorgten wir dafür, dass den Tierchen ausreichend Aufmerksamkeit zuteil wurde. Und da wir ja Experten waren, erteilten wir bereitwillig und fachkundig Auskünfte über Verhalten und Pflege. Höhepunkt jeder Führung - ganz klar - Putzis Nachwuchs. Sie verhielt sich vorbildlich und säugte ihren Nachwuchs. Die Rührung über die pelzigen Geschöpfe und ihre eifrigen Besitzer öffnete bei vielen Ausstellungsbesucher gleichermaßen Herzen und Geldbörsen. Auf Letzteres waren wir anfangs gar nicht vorbereitet. Doch wir lernten fix – und fortan diente uns eine leere Keksdose als Behältnis. Diese platzierten wir auf einem Baumstumpf, gut sichtbar natürlich. Eine kleine Spende für Futter - unser indirekter Hinweis erfüllte seinen Zweck. Die Dose füllte sich schnell. Albert und ich strahlten beim Anblick der vielen Münzen und waren stolz auf unsere einträgliche Idee mit der Ausstellung.
Doch wie immer im Leben macht dir irgendjemand irgendwann einen Strich durch die Rechnung. Eine gute Stunde war vergangen, als unser gut florierendes Geschäft ein jähes Ende finden sollte. In unserem Fall durch die staatliche Inquisition! Ein Polizeiauto näherte sich rasant mit Blaulicht und Martinshorn und stoppte mit quietschenden Reifen am unteren Weg. Intuitiv ahnte ich, dass der Einsatz mit uns zu tun haben könnte. Zwei Polizisten sprangen aus dem Käfer und schritten zielstrebig auf unsere Ausstellung zu. Gebannt verfolgten etliche Passanten das Szenario, während mir immer mulmiger wurde. Albert hingegen schien die Ruhe selbst zu sein. "Was gibt’s?", fragte er höflich. Einer der beiden Wachtmeister schnarrte, er wolle unsere Konzession sehen. Unsere – was will er sehen? Ich deutete auf die Meerschweinchen: „Sind Sie interessiert? Ich kann Sie führen!“ Der Polizist blickte mich scharf an: „Nun pass mal auf! Ich zieh’ dir gleich die Hammelbeine lang. Wer hat dir denn erlaubt, die Tiere hier vorzuführen?“ Ich schaute ertappt zu Albert. Tja...! Doch Albert blieb souverän. "Spontan." sagte er. "Eine spontane Idee." Aha, erwiderte der Gesetzeshüter, spontan. Aber auch dafür bedürfe es eines Gewerbescheins! "Wozu einen Gewerbeschein?", entgegnete Albert. Die Meerschweinchen würden lediglich interessierten Passanten gezeigt. Kostenlos natürlich. Der Dorfsheriff wies auf die Keksdose. Und was sei das hier? Spielgeld? "Ach was, nee, nee, das sei eine absolut freiwillige Spende," mischte ich mich wieder ein. Genau genommen gehöre es gar nicht uns, sondern den Meerschweinchen. Albert nickte: „Futtergeld.“ Die Herren Polizisten könnten gern alle Passanten hier fragen! Die Leute um uns herum bestätigten bereitwillig unsere Aussage. Der gestrenge Wachtmeister zeigte zwar Verständnis, jedoch kein Erbarmen. Eigentlich müsse er das Geld konfiszieren, doch auf alle Fälle müsse das Ganze auf der Stelle beendet werden. Immerhin habe es eine Anzeige gegeben!!
Wir waren wie vom Donner gerührt. Eine Anzeige? Von wem? Es stellte sich heraus, dass eine Anliegerin die Ordnungshüter gerufen hatte. Es kann ja schließlich nicht angehen, dass solche Lausejungs wie wir einfach mit ihrem Kleintierzoo auf öffentlichen Wegen herumlungern und Kasse machen – wenn das alle täten!
"Kein Problem," meinte Albert, "wir wollten sowieso grad gehen." Er schnappte sich schnell die Keksdose und verstaute sie in einem Tragekäfig. Die Ordnungshüter zogen sich zurück. Drohten jedoch, später noch einmal vorbeizuschauen.
Während wir unsere Meerschweinchen und die restlichen Siebensachen zusammen packten, klagte ich über die missgünstige Person, die uns angezeigt hatte. Albert hingegen schien damit kein Problem zu haben. Freuen wir uns lieber, dass wir so viel Geld in einer einzigen Stunde eingenommen haben. Und wer weiß, ob das Interesse angehalten hätte.
PS: Aus Albert wurde später ein gestandener Lokalpolitiker. Wie diese Geschichte beweist, besaß er bereits in jungen Jahren das dafür erforderliche Talent, das Machbare intuitiv zu erfassen und pragmatisch zu handeln.
Kurzgeschichte von Axel Zierer, Juli 2015