von Axel Zierer
Szenerie: Sonntagabend. Ein hübsches Theater in einer heidschen Kleinstadt. Mehrere Busse mit ländlichem Kennzeichen. Abonnentenpublikum in anlassgerechter Ausgehkluft und zu achtundachtzig Prozent locker über sechzig. Geräuschvoll, grobhumorig, feucht-fröhlich, gut drauf! Wie wir halt so sind...
Drinnen. Die Bühne kärglich-modern, ein Nichts, kein Vergleich mehr mit dem tollen Ausstattungstheater der 90er Jahre. Gegeben wird Clavigo vom Geheimrat Goethe. In einer der Gegenwart angepassten Fassung, wie das Programmheft orakelt.
Der Zuschauerraum bleibt hell erleuchtet, als die ersten Schauspieler in Straßenkleidung auf die Bühne springen. Die Akteure sind durchweg sehr jung bis auf einen ältlichen Herrn, der fein gewandet eine Aktentasche trägt und offenbar als Komparse agiert. Man merkt ihm die Scham an, dass er keinen Text zu sprechen hat.
„Licht aus!“ ruft es aus dem Zuschauerraum. Da das Licht offenbar zur Inszenierung gehört, wird dem Wunsch erstmal nicht nachgekommen. Ein junges Mädchen, Marie genannt und eine der Protagonistinnen des Stückes, wälzt sich ins Bild und schreit verzweifelt ins Publikum: „Clavigo verließ mich. Was soll ich tun?!?“ Die Antwort kommt aus der 18.Reihe: „Keine Ahnung!“ - Lautes Gelächter. Marie unbeeindruckt: „Ich weiß es nicht!“ - Erneut die Stimme aus dem Publikum: „Ich auch nicht!“ Die interaktive Einstimmung ist gelungen.
Und so geht es munter weiter. Die tiefgründigen Goetheschen Sätze werden von den bemühten jungen Schauspielern deklamiert - mal mit, mal ohne Kommentar. Gejohle über den Einfall der Regie, die Pause einzuläuten mit dem lebensnahen Einwurf von Marie „Durst! Ich brauch jetzt mal 'ne Pause!“
Die Alten trollen zu den Versorgungsständen. Auf dem Weg zu den reservierten Tischen mit Häppchen, Wein und anderen Erfrischungen die ersten Kommentare: „So ein Scheiß!“ - „Und die Deppen klatschen auch noch Beifall! Was für ein braves Publikum!“
Überhaupt blickt der unvoreingenommene Theaterbesucher beim Rundgang in manch irritiertes Gesicht. Es bleiben nach der Pause auch einige Sitzplätze leer. Andere betten sich erneut zur Ruhe. Man wird darauf aufmerksam, weil es heißt: „Schaut mal, der Graue pennt schon wieder.“
Das Stück steht vor der Auflösung. Marie ist von ihrem Clavigo erneut bezirzt worden. Was sie nach Einschätzung aller hätte lieber sein lassen sollen. Entsprechend schallt es lebensweise aus den hinteren Reihen: „Jag' den Kerl endlich zum Teufel!“
Da sie den gut gemeinten Rat nicht befolgen mag, weil er im Drehbuch nicht vorgesehen ist, stirbt sie letztlich. Als sie sich mit dem Messer das Leben nimmt, steht Clavigo im Zuschauerraum in der 16. Reihe. Maries Schwester eilt herbei, beugt sich über die Sterbende, und verkündigt laut, dass Marie jetzt tot sei. Clavigo erschrickt, will es nicht glauben und fragt brüllend nach: „Ist sie wirklich tot?“
Diese aus unerwarteter Ecke kommende verzweifelte Nachfrage löst bei einer Zuschauerin in der 14. Reihe beinahe einen Herzkasper aus. „Gott! Was hab ich mich verjagt!“ Doch Clavigo bleibt textgetreu und ruft erneut: „Ist sie tot?“
Jetzt erreicht das interaktive Theaterspiel seinen Höhepunkt. Eine Zuschauerin aus einer vorderen Reihe beteuert ernsthaft: „Ja ja, sie ist tot! Sagt jedenfalls die da unten!“ Clavigo stürzt auf die Bühne. Ums kurz zu machen: auch er stirbt einen theatralischen Tod mit den zur Gegend verorteten Worten: „Röslein, Röslein auf der Heide“.
Nur schlapper Applaus am Ende. Doch selbst der fachunkundige Theaterbesucher wird eingestehen müssen, dass ein Goethisches Trauerspiel ausgesprochen fröhlich sein kann.