Jeder Ort, der etwas auf sich hält, gestaltet heute seinen eigenen Weihnachtsmarkt, mit Verkaufsbuden, haushohen Tannenbäumen und grellbunten Lichterketten. Es wird gekauft, als gäbe es morgen nichts mehr, überall sieht man Taschen, Pakete und Päckchen in allen Größen und Formen, passend für jeden Wunschzettel und jeden Geldbeutel, vor allem für den gut gefüllten.
Ich träume mich zurück, in die Weihnachtszeit meiner Kindheit. Mit dem Erstellen des Wunschzettels war ich rasch fertig. Es lohnte die Mühe nicht, große Überlegungen anzustellen. Nicht zum Nikolaus, nicht zu Weihnachten, nicht zu Ostern – übrigens auch nicht zum Geburtstag. Der war nämlich im Januar, und da war das Geld noch knapper als an den erwähnten Festtagen. Mein Vater war Maler, nein, er malte keine Gemälde, sondern strich Wände und Türen an. Im Winter war die Auftragslage so kümmerlich wie sein Verdienst. Und so sahen für uns Kinder auch die Geschenke aus – es gab wenig, kaum etwas, auf jeden Fall nicht viel. Wie es eben in den Fünfziger Jahre bei den meisten Arbeiterfamilien der Fall war. Es knappste an allen Ecken und Kanten.
Mein Altersgenosse Eberhard hatte Heiligabend Geburtstag – ausgerechnet, dieser arme Kerl. So dachte ich schon als kleiner Junge und bemitleidete ihn. Für Geschenke, und seien sie noch so klein, gab es kaum Gelegenheiten. Und da fielen bei dem armen Teufel zwei Festtage auf ein und denselben Tag. Die Geschenkesituation ähnelte unserer, denn auch sein Erzeuger werkelte als Malergeselle.
Da Eberhard das Patenkind meines Vaters war, gehörte es zu unserer weihnachtlichen Pflicht, ihn jedes Jahr zum Ehrentag mit unserem Besuch zu erfreuen. So stapften mein Vater, mein jüngerer Bruder Peter und ich am Nachmittag des Heilig Abend zum Gratulationsakt. Wir liefen an der Hauptstraße entlang, es war kalt, die Luft roch nach Schnee, aber die Wege waren noch schwarz, genau wie die meisten Schaufenster mit ihren Auslagen. Es gab keine Lichterketten, keine Weihnachtsbäume mit elektrischen Kerzen, und auch das Schaufenster mit dem Pfefferkuchenhaus und der Krippe von Feinkost Zutz vor der Tankstelle Kuhfuß, Ecke Lederhecke, war stockfinster.
Wir erreichten die Lauterberger Strasse, in der Eberhards Eltern, die ich Onkel und Tante nannte, obwohl sie es eigentlich gar nicht waren, in einem Mietshaus wohnten. Auf dem Tisch in der guten Stube stand der Adventskranz, der mit roten Bändern an einem Holzgestell hing. Die vier dicken roten Kerzen brannten, daneben lagen selbst gestrickte Strümpfe, die vermutlich Eberhards Geburtstagsgeschenk waren. Vielleicht auch gleichzeitig das Weihnachtsgeschenk, der linke Strumpf für das eine, der rechte für das andere Fest.
Eberhards Mutter kochte uns heissen Kakao, zur damaligen Zeit eine seltene Delikatesse, und dazu aßen wir selbst gebackenen Kuchen. Eberhard freute sich über mein Geschenk, ein kleines Plastikauto, das ich für 10 Pfennige aus dem Kaugummiautomaten gezogen hatte und ihm großzügig überließ, da ich ihn bedauerte. Wie ich eigentlich alle Menschen bedauerte, die mit gleichen Schwierigkeiten wie ich zu hadern hatten. Natürlich tat ich ihm mein Mitleid kund. Nun kriegst du schon wenig genug, und dann auch nur einmal. Eberhard sah mich verständnislos an. So ein Quatsch, antwortete er mir, da müsstest eigentlich du mir Leid tun. Ich bekomme nur einmal nix, aber du kriegst an Weihnachten und an deinem Geburtstag nix! Zweimal nix ist doch schlechter als einmal nix, oder? Ich geriet ins Nachdenken, auch darüber, ob ich das kleine Plastikauto tatsächlich hätte weggeben sollen. Eberhard schien ja besser dran zu sein als ich. Mein Bruder hielt sich raus aus unserer philosophischen Betrachtung und prüfte indes das 10 Pfennig-Geschenk hinsichtlich der Haltbarkeit auf Herz und Nieren.
Noch auf dem Nachhauseweg grübelte ich über Eberhards Logik nach. Wir nahmen jetzt Kurs auf die Wohnung meiner Großeltern in der Herzog-Wilhelm-Strasse. Hier traf sich traditionsgemäß die Stammfamilie zu Weihnachtsandacht und Würstchen. Inzwischen fiel Schnee in dicken Flocken herab, legte sich über die Wege und Straßen und verlieh dem Ort ein weihnachtliches Aussehen. Aus etlichen Wohnzimmerfenstern schimmerte Kerzenlicht von den Weihnachtsbäumen durch, in ihrer Wirkung nur übertroffen vom riesigen Lichterbaum vor dem Sanatorium Dr.Schroeder. Jetzt war auch das Schaufenster von Feinkost Zutz strahlend hell erleuchtet. Wir verweilten vor der Krippe aus Weihnachtsgebäck, Zuckerwerk und Wattebäuschen und bestaunten die kleinen Figuren und Tiere. Endlich war mir feierlich zumute. geschichteJetzt war es richtig Heiligabend.
Das Freudengefühl, das mich überkam, teilte ich meinem Bruder in Form einer freundschaftlichen Balgerei mit. Daraus entwickelte sich schnell eine herrlich wüste Schneeballschlacht, die mein Vater erst stoppte, als sein dunkler Mantel von unseren Schneeballgeschossen ganz weiß aussah. In dieser ausgelassenen Stimmung keimte in mir plötzlich eine Hoffnung auf. Vielleicht brachte ja der Weihnachtsmann dieses Mal ganz überraschend ein richtiges Geschenk, das Kinderaugen zum Leuchten bringt, und nicht nur praktisches Zeug wie die Bommelmütze im letzten Jahr oder die Handschuhe beim vorletzten Weihnachtsfest.
Und tatsächlich. Unterm Weihnachtsbaum lag neben dem obligaten bunten Teller mit kleinen Naschereien ein echtes Geschenk für mich und meinen Bruder Peter: ein Monopoly-Spiel. Noch heute gehört es zu meinen Lieblingsspielen. Und wenn ich mir Hotels in der Bad- oder Turmstrasse kaufe (bescheiden, aber effizient), ergreift mich mitunter die Erinnerung an dieses Weihnachten in karger Zeit. Und beschert mir stets ein wohliges Gefühl.