Kennen Sie Fräulein Thielecke? Sie war die Halbschwester von W.v.Goethe und lebte in Braunburg. Mit der geschlechtlichen Reife kam ihr in den Sinn, den halben Bruder im fernen Thüringen zu besuchen. Und sie staunte nicht schlecht über dessen riesiges Anwesen.

Als Mitbringsel hatte sie zehn Stangen Spargel dabei - ein bis dato noch völlig unbekanntes Gemüse. Im heimischen Garten waren ihr erste Versuche mit der Anpflanzung gelungen. Goethe beäugte die seltsam anmutenden Gewächse zunächst mit gewissen Argwohn, doch das gewiefte Fräulein Thielecke jubelte ihm die Stangen als königliches Gemüse unter - und schon mundete ihm die edle Köstlichkeit. So gut sogar, dass der Dichterfürst nach mehr begehrte. Das brachte die Halbschwester in arge Nöte. Nach kurzer Überlegung kam ihr jedoch die rettende Idee: Ich werde den brachliegenden Teil des halbbrüderlichen Grundstücks in ein Spargelfeld verwandeln.

Gesagt, getan. Und das Gemüse gedieh wie eine Eins. Doch bald wurde die Anbaufläche zu klein und der Arbeitsaufwand zu groß, um die steigende Nachfrage zu befriedigen. Denn inzwischen hatten Freunde des Halbbruders und anderes Gelichter ebenfalls Gefallen am Stangenspargel gefunden. Für Fräulein Thielecke gab es zur radikalen Rationierung nur eine Alternative: Wenn sie das königliche Gemüse mit dem weihevollen Namen Goethes versehe und es nicht verschenke, sondern fortan zu völlig abwegigen Preisen an reiche, gebildete Kreise verkaufe, mein lieber Amadeus, das könnte einträglich werden und den Bestand schonen. Und so schuf sie eine Nomenklatur. Die Lieferung erfolgte fortan ausschließlich an Leute mit einem Abiturdurchschnitt von 1.0, ersatzweise galt ein Doktor- oder Professorentitel. Dafür erhielten sie den köstlich-kostbaren Stangenspargel versehen mit der Banderole „Aus Goethes Garten“. Das Geschäft blühte. Und da es an Wechselgeld fehlte, wurde sogar eigens eine Spargelbank gegründet.

Ich selbst hätte das erlauchte Bildungsgemüse natürlich nie erhalten, da ich kein einziges Kriterium auch nur ansatzweise erfülle. Allenfalls wäre ich für das Vorbeibringen des Wechselgeldes infrage gekommen.

Diese Geschichte fiel mir ein, als ich am 26. Juni nach Spargel fragte und die Dame mich mit missbilligendem Blick wissen ließ, dass für mich keiner mehr da sei. Augenblicklich standen mir alle meine lernwidrigen Sünden vor Augen, beispielsweise das Lesen der vielen Groschenhefte wie Sigurd, der ritterliche Held oder Akim, Held des Dschungels. Einmal Opfer der Schundliteratur, immer Opfer. Ergo auch kein Edelgemüse für mich. Die Verkäuferin bekam wohl Mitleid, als sie meine Verzweifelung bemerkte. Und spendete Trost: Trivialer Grund - die Spargelsaison sei vorüber. Und setzte zu meinem Erstaunen hinzu: Selbst Fräulein Thielecke könnte jetzt keine Stangen mehr liefern ...

----------- c/Juni 2015 ---------

Spargel adé
von Axel Zierer