Zum Tod von Peter Aston

Es wird in jüngster Zeit viel über Zivilcourage debattiert. Ich habe mir sagen lassen, übersetzt heißt es Bürgermut, abgeleitet vom lateinischen Civis für Bürger und dem französischen Courage für Mut. Zivilcourage zu haben bedeutet, einzutreten für andere Personen, ohne Rücksicht auf mögliche eigene Nachteile..

Die praktische Anwendung von Zivilcourage erfuhr ich erstmals in der Person von Peter Aston. Leider ist Peter dieser Tage von uns gegangen. Nur wenig älter als ich, starb er am plötzlichen Herztod. Sein Ableben bedauere ich sehr. Sein mutiges Einschreiten, das er einst während einer dramtischen Auseinandersetzung bewiesen hatte, wird mir jedoch stets in respektvoller Erinnerung bleiben. Wir kannten uns zwar relativ gut, leider fand sich nie Gelegenheit, ihm das zu sagen.

Es geschah 1966 an einem Samstag in meiner Heimatstadt Braunlage im damals angesagten Liveclub „Neue Welt“. Taschengeld war knapp. Jobs nicht. So saßen mein damaliger Freund Uwe Recke und ich bei Beatkonzerten an der Kasse und verkauften Eintrittskarten. Unseren Platz hatten wir an einem kleinen Tisch neben der Schiebetür, die den Gastraum der „Gaststätte Quelle“ von den Räumlichkeiten der „Neuen Welt“ trennte. Meist eine angenehme Aufgabe. Doch wie so oft im Leben..

Wir kannten ihn schon, diesen unangenehmen, pöbelnden und meist stark angetrunkenen Stänker. Wieso sollte er Eintritt zahlen? Unseren "dreisten" Hinweis, der Zutritt sei bis eine Stunde nach Konzertbeginn kostenpflichtig, quittierte er gern auf seine spezielle Art. Ohne Vorwarnung wurden wir aus den Stühlen gerissen, am Schlafittchen gepackt, durchgeschüttelt und heftig zurückgestossen. Danach folgten meist wüste Beschimpfungen unter Androhung von Schläge. Da half keine Beschwichtigung, kein auf Kumpel Getue. Durchatmen war erst angebracht, wenn er wieder in den Gastraum der Quelle zurückgetaumelt war.

An besagtem Abend war der Club knackevoll. Selbst der kleine Nebenraum, in dem wir kassierten, und vor dem eigentlichen Gastraum mit Bar und Bühne gelegen, war voll besetzt. Es herrschte ein ständiges Gedrängel, dazwischen fegten die Kellner mit ihren vollgestellten Tablets in Stirnhöhe unter ständigem Rufen wie: "heiß und fettig", "Platz machen, die Suppe kommt". Plötzlich, wie hingemeißelt, stand "unser Freund" vor uns. Seine Blicke verhießen nichts Gutes. Also winkten wir ihn durch, noch ehe er seine übliche Nummer abziehen konnte. Und blickten mit ungutem Gefühl hinterher, wie er sich rücksichtslos seinen Weg durch den übervollen Gastraum bahnte. Niemand muckte auf. Er konnte anrempeln, wen er wollte. Ein Blick reichte, um seinem jeweiligen Gegenüber zum Kuschen zu bringen.

Am Tisch neben unserer Kasse saß eine Gruppe mit Leuten aus Wolfenbüttel. Freundliche junge Männer, die untereinander scherzten. So regierten sie zunächst auch gelassen, als "unser Freund" auf seiner Rücktour gegen ihren Tisch rumpelte und dabei ein paar Gläser umstieß. Einer von ihnen mahnte im ruhigen Ton mehr Vorsicht an und forderte Ersatz für die verschütteten Getränke. Entgeistert starrte der Suffkopp ihn an. Was willst du? Er schien fassungslos. Wie jemand, der im Rausch ein Käsetörtchen mit dem Mond verwechselt. Der Wolfenbüttler erhob sich und wiederholte seiner Forderung. Ab jetzt ging es rund. Heftiges Schubsen und einseitige Beleidigungen waren der Auftakt.

Danach ging alles ziemlich schnell. Der Wolfenbütteler entledigte sich seine Jacke. Und aus dem anfänglichen Schubsen und Schreien erwuchs schnell eine wüste Schlägerei. Die ersten Gäste brachten sich durch Flucht in Sicherheit. Andere schauten dem Geschehen hilflos zu oder hielten krampfhaft ihre Getränke fest, nachdem Tische und Stühle reihenweise umgestossen wurden. Ich schnappte geistesgegenwärtig die Zigarrenkiste mit den Einnahmen vom Tisch. Nur schnell aus der Schusslinie. Keinen Moment zu früh.

Die Klopperei blieb den Gästen im großen Gastraum natürlich nicht verborgen. Die Musiker taten das, was sie damals in solchen Situationen immer taten: sie spielten weiter. Und so blieb die Tanzfläche gefüllt. Nur ganz Neugierige riskierten einen verstohlen Blick in das Tohuwabohu vom Nebenraum. Das eigentliche Geschehen spielte sich inzwischen im Gastraum der Quelle ab. Der Wolfenbütteler trieb seinen Gegner mit Körperhaken vor sich her in Richtung Ausgang. Jeder Schlag ein Treffer. Das Blut spritzte dem Suffkopp aus Mund und Nase. Aber noch wehrte er sich mit wilden, unkontrollierten Schwingern. Oben vor der hinabführenden Treppe waren Schwingtüren angebracht. Als der Stänker von einem Schlag getroffen durch die Flügeltüren rauschte und die Treppen hinunterstürzte, erinnerte das unwillkürlich an einen Western.

Zunächst glaubten alle, dass jetzt Schluss sei, der Stänker kampfunfähig. Doch der zuvor so freundliche und gelassen wirkende Wolfenbütteler war weiter außer sich vor Wut. Immer wieder trafen seine Schläge den auf der Kreuzung Bahnhof-/Lauterberger Strasse umhertorkelnden Gegner. Er würde ihm austreiben, friedliche Leute anzupöbeln. Damit sprach er vielen aus dem Herzen. Man gönnte dem ewigen Stänker die verdiente Abreibung. Aber alle hatten das Gefühl, jetzt ist genug.

Immer mehr Leute strömten aus den umliegenden Kneipen auf die Strasse. Die Schlägerei hatte sich herumgesprochen. Doch hielten alle respektvollen Abstand. Der Stänker lag jetzt rücklings auf der Straße, völlig wehrlos. Dick quoll ihm das Blut aus dem Mund. Ein mulmiges Gefühl beschlich mich. Aber niemand wagte einzugreifen, selbst die Freunde des Wolfenbüttlers nicht.

Bis auf Peter Aston. Peter löste sich aus der Menschenmenge und ging mit erhobenden Armen auf den tobenden Wolfenbütteler zu. Er wies auf den ersichtlich Schwerverletzten und bat darum, ihm helfen zu dürfen. Peter kniete sich neben den Verletzten und drehte seinen Kopf zur Seite, damit das Blut aus dem Mund abfließen konnte. Mit seiner zusammengerollten Jacke, die er ihm unter den Nacken schob, beugte er der drohenden Erstickungsgefahr vor. Erst jetzt trat der Wolfenbüttler zur Seite. Er bebte am ganzen Körper, sein weißes Hemd war zerrissen und völlig mit Blut bespritzt. Noch immer empörte er sich über die Aggression, die vom Stänker ausgegangen war.

Krankenwagen und Polizei trafen ein. Die Polizei nahm erste Befragungen vor. Alle Zeugen bestätigten, dass der Wolfenbüttler sich nur gewehrt habe gegen Pöbeleien und Streitlust. Ich stand da, die Zigarrenkiste fest umkrallt, als er schließlich ins Polizeiauto stieg. Zufällig trafen sich unsere Blicke. Er verharrte für einen Moment und lächelte mir aufmunternd zu. Dass er sich später vor Gericht für die Körperverletzung verantworten musste, empfand ich in meiner jugendlicher Unerfahrenheit höchst ungerecht.

Ich sah ihn übrigens nie wieder. Den Stänker hingegen schon. Aber erst viele Jahre später. Er wirkte seltsam geläutert. Heute frage ich mich, ob er sich bei Peter Aston für die Lebensrettung je bedankt hat. Doch diese Frage wird leider unbeantwortet bleiben.

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