FORTSETZUNG - Volksbühne, "Berlin Alexanderplatz"

Nach kurzer Verwirrung – Reihe 1 heißt hier Reihe 6, Platz 1 befindet sich nicht außen, sondern in der Mitte – nehme ich meinen Sitzplatz ein. Die Bühne sieht verheißungsvoll aus: kurz zuvor scheint ein Platzregen durchs defekte Dach gelangt zu sein. Der Bühnenboden ist jedenfalls geflutet. Ich vertiefe mich in mein Programm – und erstarre: Spieldauer 4,5 Stunden, eine Pause! Das hat mir keiner gesagt. Der Saal füllt sich, es geht los. Die Schauspieler glitschen durch Pfützen, werfen sich in die Fluten. Der Kontakt mit dem Publikum wird gesucht. Die überaus praktische, weil Zeit sparende Einrichtung einer fertig gebundenen Krawatte am Gummiband wird erklärt. Der Schauspieler will dies an einem Theaterbesucher verdeutlichen. Ich rutsche tiefer in meinen Sessel, blicke nicht hoch, bin eigentlich gar nicht da. Aber es gibt kein Entrinnen. Der Schauspieler fixiert mich – und bittet mich auf die Bühne. Schön aufpassen, es sei ziemlich nass und rutschig! Tapfer erklimme ich die Bühne, lasse mir die Krawatte umhängen – und bin schnurstracks in ein Verkaufsgespräch verwickelt. Er will mir tatsächlich die olle Krawatte verkaufen. Für ganze 20 Euro. Der ehemalige Banker in mir erwacht. Ich biete ihm 10 Euro. Immerhin sei die Krawatte gebraucht, außerdem feucht. Auch vom Hinweis, dies sei Arbeitsschweiß, lasse ich mich nicht erweichen. Beim Schauspieler scheint der Ehrgeiz erwacht zu sein, er zockt mit. Das Publikum beginnt unruhig zu werden. Man befinde sich im Theater und nicht auf einem Basar. Nun zahl doch, rufen die ersten mir zu. Schließlich will ich den Fortgang des Stückes nicht weiter hinauszögern und zücke unter allgemeinem Gejohle meine Brieftasche. 20 Euro und die Krawatte wechseln die Besitzer, ich verlasse unter Beifall die Bühne.

Von Akteuren wie Besuchern wird einiges abverlangt: von oben prasselt ein Schwall Wasser hernieder, die gesamte erste (respektive sechste) Reihe zuckt zusammen. Ständig liegt einer in den Pfützen, glibscht quer über die gesamte Bühne – die erste Reihe zuckt wieder. Die Frauen stöckeln auf Highheels durch die Fluten, die dünnen Kleidchen kleben an durchaus ansehnlichen Körpern. Es wird höllisch viel gebrüllt, kein Wunder, müssen doch der aufjaulende Motor und die quietschenden Bremsen des Autos übertönt werden. Aber erst, nachdem der Fahrer mit Getöse die Wand des Carports umnietet und mit dem Auto das schwere Trumm Richtung Publikum schiebt, zuckt die gesamte erste Reihe wieder zusammen. Geradezu friedlich wirkt die Szene, in der Ketchup direkt auf den Arm des Mitspielers geschmiert und das Würstchen dort eingetaucht und dann verspeist wird. Um anschließend wieder herausgewürgt zu werden. Die gesamte erste Reihe – Sie können es sich ja denken. Dann wird gegrillt, auf offenem Feuer, versteht sich. Die Würstchen werden herunter geschlungen, wieder ausgespuckt, landen mal auf dem Boden im Wasser, dann wieder auf dem Grill, auch klatschend auf einem Theaterbesucher – nein, nicht in der ersten Reihe, Würstchen können weiter fliegen.

Nach dreieinhalb Stunden voller Aktionen, Höllenbrüllerei, Wasserfontänen und fliegender Würstchen brauchen Akteure wie Besucher eine Pause. Noch im Saal werde ich von Besuchern angesprochen ob meines kleinen Gastspiels. Man möchte mir tatsächlich meine öffentlich erstandene Krawatte abkaufen. Meine "Mühen" will man mir auch gern mit zusätzlichen 10 Euro vergüten. Der daraufhin beginnende Handel wird jäh unterbrochen. Eine junge Frau stürzt auf mich zu, wedelt mit einem 20-Euro-Schein vor meinem Gesicht. Ich lehne ab, aber sie beschwört mich fast unter Tränen, ihr die Krawatte wieder auszuhändigen. Sie sei die Requisiteurin des Theaters und man habe nur diese einzige. Ich lasse mich erweichen und trenne mich von diesem guten Stück – ungern, wie ich gestehen muss.

 Was wollte ich noch erwähnen? Ach ja, wie ich das Theaterstück fand! Modern. Und lang. Viel Theater fürs Geld. Die gesamte Aufführung dauerte letztlich 5 Stunden und 20 Minuten. Die Akteure spielten mit Leidenschaft und großer Ernsthaftigkeit, hoch konzentriert, facettenreich und intensiv. Einfach großartig. Castorfs Inszenierung war  wie erwartet packend und bemerkenswert und trotz der Länge kurzweilig. Bühnenbild und Requisite trugen eindrucksvoll zur gelungenen Aufführung bei. Sie ließ in keinem Moment Langeweile aufkommen. Ein älterer Zuschauer – gewandet ganz in Pink (!!), von der Hose über das pelzbesetzte Cape bis hin zur Melone – raunte mir zu, unbedarfte auswärtige Theaterbesucher erwarteten beim Schlagwort „Berlin Alexanderplatz“  wohl mehr einen Folkloreabend. Bei solch einer Aufführung bekomme man dann natürlich einen Schlag. Nun hatte ich keine folkloristische Darbietung erwartet, ich bekam folglich auch keinen Schlag. Obwohl, ein wenig kürzer wäre nicht unbedingt schlechter gewesen. Und ganz ehrlich, ein wenig mehr Fassbinder auch.

zwischendurch eine kleine Stärkung...

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