Neulich hat mir allen Ernstes jemand vorgeworfen, ich wolle "immer nur etwas Besonderes sein".
"Natürlich will ich das", habe ich geantwortet. "Wer will das denn nicht?"
"Du bist echt bescheuert, weißt du das? Wie kann man nur so eingebildet sein?"
Das hat mir erst mal die Sprache verschlagen. Was hat denn das bitte mit Einbildung zu tun?
Ich habe mich abgewandt und bin gegangen, auf so was hatte ich wirklich keine Lust. Aber was hat diese Person bloß so wütend gemacht?
Anscheinend, dass ich gesagt habe, ich wäre gern jemand Besonderes.
Ich habe nicht wirklich verstanden, was ihr Problem war, aber ich habe darüber nachgedacht.
Warum will ich etwas Besonderes sein, wie stelle ich das an? Ich habe ein besonderes Aussehen, das einigen gefällt und anderen nicht.
Egal ist es eigentlich niemandem. Damit fängt es vielleicht schon an.
Dann mein Musikgeschmack. Ist halt nicht einzuordnen. Ich höre alles Mögliche, nur nicht das, was im Radio läuft.
Das mache ich keineswegs absichtlich, ich mag dieses Gedudel halt einfach nicht. Ich muss immer eine CD oder Platte laufen haben, bei Radio dreht sich mir der Magen um.
Aber das kann man mir ja nun nicht zum Vorwurf machen.
Was macht mich in meinen Augen noch besonders?
Ich habe schon einen sehr eigenen Kopf. Ich habe meine Einstellungen Dingen gegenüber, die meist nicht unbedingt der Allgemeinheit entsprechen.
Aber was heißt Allgemeinheit?
Sind das die Menschen, die Radio hören? Die sich Markenklamotten kaufen und einmal im Monat zum Friseur gehen?
Sind es Leute, die dem Penner auf der Straße ein paar Cents zuwerfen und ihm zumurmeln, er solle das Geld nicht für Alkohol ausgeben und sich dann abends zu Hause mit dem Ehepartner beim Essen und beim Nachrichten gucken kultiviert zwei Flaschen Wein reinziehen, weil es zum Establishment gehört und man hinterher besser schlafen kann?
Wie soll man die Allgemeinheit charakterisieren? Vielleicht sind es die Leute, die fünf Tage die Woche, 46 Wochen im Jahr arbeiten, in den Urlaub nach Kreta fliegen, einen Jungen und ein Mädchen haben, er auf dem Gymnasium, sie auf der Realschule und deren größte Sorge es ist, dass der Hund auf den neuen Teppich gekotzt hat, der Sohn heimlich raucht und die Tochter ihren ersten festen Freund mit nach Hause bringt?
Vielleicht ist die Allgemeinheit auch einfach nur die große graue Masse Menschen, mit denen ich nichts zu tun habe, weil sie zu alt oder zu jung sind, weil sie meinen Musikgeschmack nicht teilen, weil sie woanders wohnen, weil wir kein Gesprächsthema finden würden, oder weil ich schon viel zu viele Leute kenne?
Aber diese ganzen Menschen, denen man tagtäglich in der grauen Masse begegnet, die man ständig beim Einkaufen sieht, die neben einem wohnen, die auf demselben Planeten wohnen, sind die denn nicht besonders? Bin ich einer der wenigen Menschen, die das Privileg gepachtet zu haben scheinen, etwas Besonderes sein zu wollen?
Ich bin etwas Besonderes. Etwas besonders Liebenswertes für meine Familie, etwas besonders Interessantes für viele Männer, etwas besonders Vertrautes für meinen Freund, etwas besonders Verhasstes für meine Feinde und etwas besonders Eingebildetes für Menschen, die nichts Besonderes sein wollen.
Und für mich selber? Meine Güte, wenn ich für mich selbst niemand Besonderes wäre, warum sollte ich mir dann die Haare kämmen, etwas leckeres essen, ein Bad genießen, Musik hören, schöne Bücher lesen, mich lieben lassen? Natürlich bin ich besonders, ich bin schließlich ich.
Und ja, ich hebe mich von der Allgemeinheit ab, von der großen grauen Masse. Durch mein Äußeres, durch mein Auftreten, ich fall auf. Ich bin kein Rassist, ich bin kein Reaktionär, kein Fanatiker, kein Krimineller. Nicht auffällig. Aber besonders.
Was ist daran verwerflich? Warum sollte man deswegen sauer auf mich sein?
Vielleicht, weil "man" selbst es nicht schafft, sich für etwas Besonderes zu halten?
Miriam, 27. September 2005